Drei Jahrhunderte, drei Ziele, drei Schicksale.

Abenteuer, Liebe, Verrat.

Die junge deutsche Ärztin Júlia, die eigentlich

 nur den letzten Wunsch ihrer verstorbenen

 Mutter erfüllen will, der zu allem entschlossene

Bauernjunge Benício aus den Bergen Portugals

und der Kapitän Gaspar de Lemos, Mitglied der

 Flotte des Brasilienentdeckers Cabral, haben

scheinbar nichts gemeinsam –­ doch ihre Schicksale

sind auf rätselhafte Weise miteinander verbunden.

In Brasilien gerät Júlia in einen Strudel von

Ereignissen und zwiespältigen Gefühlen für dieses

an Gegensätzen reiche, faszinierende Land.

LESEPROBE

Sie konnte trotz der Müdigkeit nicht einschlafen, was weder an dem bequemen Bett noch an der durch den Ventilator erzeugten angenehmen Kühle des Zimmers lag. Zu viele Gedanken beschäftigten sie. Was würde sie morgen im Kloster erfahren? War ihre Mutter vor irgendetwas auf der Flucht gewesen? Warum war sie selbst im fast 2000 km von Rio de Janeiro entfernten Salvador auf die Welt gekommen? Und wer war ihr leiblicher Vater? Was hatte die Eltern getrennt und warum hatte Ana immer geschwiegen und deshalb diese unüberbrückbare Ferne zwischen Tochter und Mutter heraufbeschworen?  
Ihr Herz raste. Sie hörte jeden Pulsschlag in ihrem Kopf und fand keine Ruhe. Daher öffnete sie die Tür zur Terrasse und lief leise barfuß nach vorne zur Brüstung. Frédéric und Jacira hatten hier interessante, lebensgroße Kunstobjekte aus Schrott aufgestellt, die sich nun vor dem Vollmond als gespenstische Schatten abhoben.
Das immer gleiche Rauschen des Meeres war auch hier oben noch zu hören. Der Wind glitt durch ihr leichtes Trägernachthemd und ließ es flattern.
Jetzt stand sie an der Mauer und sah die Lichter der Bars und vorbeifahrenden Autos unter sich. Beidseits der Bucht waren die Forts hell angestrahlt. Es war ein beruhigender Anblick, der sie gefangennahm.
»Immer noch wach?«, fragte eine Stimme hinter ihrem Rücken. Júlia fuhr zusammen. Ruckartig drehte sie sich um, erkannte jedoch in der Dunkelheit niemanden.
»Nicht erschrecken. Ich bin´s!«, gab sich Thiago zu erkennen. Er saß in einem der Lehnstühle aus Korbgeflecht, an denen sie vorbeigelaufen war.
»Ich…Ich kann nicht schlafen. Es ist…einfach zu viel«, erklärte sie.
»Das kann ich verstehen.«
Dann sagte er nichts mehr.
»Darf ich?«, fragte sie, doch ohne seine Antwort abzuwarten, rückte sie den zweiten Sessel zurecht,  in dessen weiche Kissen sie sich nun fallen ließ.
»Sie faszinieren mich, Júlia«, begann er nach einer minutenlangen Stille.
»Ich? Weshalb?«
»Sie sind so anders, so unverbraucht und offen. Sie nähern sich allem hier mit einem ganz anderen Blickwinkel, und Sie kennen keine Grenzen.«
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er von ihr sprach. Im Gegenteil, sie selbst fand sich meist viel zu langweilig und verstockt.
»Warum sind Sie nicht schon längst verheiratet und haben Kinder, wenn ich Sie das fragen darf?«
Júlia schluckte. Das war das alte, leidige Thema: Ehe und Kinder. Immer hatte sie es weit von  sich geschoben, da sie keine gute Erinnerung an dieses für die Mehrzahl der Menschen höchst erstrebenswerte Ziel Familie hatte. Vielleicht war sie auch deshalb die langjährige Beziehung zum deutlich älteren Gregor, dessen Studien vor allem anderen Vorrang hatten, eingegangen, um nicht an Hochzeit und Nachwuchs denken zu müssen. Bisher war sie, hatte sie angenommen, mit diesem Status glücklich gewesen.
»Ich komme auch ganz gut ohne das alles zurecht«, war ihre abwehrende Antwort.
»Dabei leuchteten Ihre Augen, als sie neben Ailton standen.«
Diese Worte hatte sie nicht erwartet. Sie sah das hübsche Gesicht des Waisenjungen vor sich, der sie mit seinen großen braunen Augen anstrahlte und ihr unbedingt die Tiere auf der Insel zeigen wollte.
»Nein, ich, äh, ich komme mit Kindern nicht klar, und ich sehne mich auch nicht danach, Ehefrau zu sein. Schließlich habe ich meine Forschung.«
»Ah, stimmt, Ihr Labor in Luzern. Wer ist noch einmal dieser Gregor, der das FAX geschickt hat? Ihr Freund?«
»Mein Chef.« Warum log sie? Sie konnte es selbst nicht begreifen, warum sie ihre Beziehung zu Gregor verleugnete. Was war nur in sie gefahren? Er war ein international geachteter Mediziner, den man stolz als seinen Lebenspartner vorstellen konnte.
»Ein Vorgesetzter, der ›mit Kuss‹ auf das Schreiben an seine Mitarbeiterin setzt! Gratulation.«
»Sie können deutsch?«, fragte sie bissig.
»Kiss und Kuss sind sich sehr ähnlich, wissen Sie. Das versteht auch ein dummer Anwalt wie ich.«
Sie waren an einem Punkt des Gesprächs angekommen, der wohl nur in Streit enden konnte, doch das wollte sie vermeiden. Am morgigen Tag brauchte sie ihn, um Licht in ihre Vergangenheit zu bringen. Sie wollte diesen herrlichen Abend nicht im Zwist beenden.
»Ich sollte jetzt gehen, denke ich«, meinte sie lasch.
Als er keine Reaktion auf ihre Worte zeigte, stützte sie sich langsam aus dem Lehnstuhl auf. Eine Windbö erfasste ihre langen blonden Haare und wirbelte sie um ihren Kopf.
Thiago erhob sich ebenfalls: »Sie laufen ständig vor etwas davon, Júlia. Merken Sie das nicht?«
Er trat einen Schritt auf sie zu, so dass er jetzt ganz dicht bei ihr stand. Sie sahen sich in die Augen.
Die Nähe löste ein beklemmendes Gefühl in ihr aus, das sie beenden wollte, so dass sie sagte: »Und Sie? Tun Sie das nicht auch?«
Dann wollte sie davoneilen, um hinter der Tür ihres Zimmers Schutz zu suchen, doch er trat ihr in den Weg und hielt sie an den Armen fest. Sein Griff fühlte sich stark und fordernd an. Seine Lippen näherten sich den ihren, und sie öffnete schon den Mund, als er sie abrupt losließ und hinter einem der Pfeiler verschwand.